»Charlotte« von David Foenkinos – Charlotte Salomon

Wer den biografischen Roman »Charlotte« von David Foenkinos unvorbereitet aufschlägt, könnte erschrecken. Könnte denken, es sei kein Roman, sondern Lyrik. Das ist möglich. Der linksbündige Satzaufbau lässt diesen Schluss tatsächlich zu und sicherlich führt er zu einer anderen Leseweise, einer, der die Sätze klingen lässt, der Atemholen nicht nur möglich macht, sondern fordert. Das Lesen wird zu einer körperlichen Erfahrung, denn trotz der erzwungenen Pausen, verschlägt die Geschichte der jüdischen Malerin Charlotte Salomon mir den Atem.

Erblasten und andere Bürden

Charlotte Salomon wird am 16. April 1917 in Berlin geboren. Sie ist die Tochter des jüdischen Ehepaars Franziska Grunwald und Albert Salomon, ein Chirurg. Früh nimmt sich die Mutter das Leben und Charlotte wächst einsam auf. Der Vater arbeitet viel, die Kindermädchen wechseln. Ich erfahre, was der kleinen Charlotte verschwiegen wird: In der Familie Grunwald grassiert die Depression wie eine Seuche. Die Selbstmordrate ist extrem hoch. Das ist der Wahnsinn.

Doch die Erblast ist nicht die einzige Bürde, die Charlotte zu tragen hat:

»Charlotte glaubt nicht, dass der Hass nur eine vorübergehende Erscheinung ist.
Das sind nicht ein paar Spinner, das ist ein ganzes Volk.
Das Land wird von einere gewalthungrigen Meute regiert.«

Während die Nationalsozialisten in den Alltag des Volkes eingreifen, menschliches Leben verabscheuen, jüdisches sowieso, individuelles und künstlerisches erst recht, entdeckt Charlotte die Malerei. Eine Italienreise mit den Großeltern bringt etwas zum Schwingen:

»Künstler erreichen in ihrem Leben einen bestimmten Punkt.
Einen Punkt, an dem sich eine innere Stimme zu Wort meldet.
Etwas in ihnen breitet sich unaufhaltsam aus, wie Blutstropfen im Wasser.«

Innere Stimme

Die innere Stimme dieses Romans ist David Foenkinos, ein französischer Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur, dessen Interesse für Deutschland mit einem Zeitungsartikel über Aby Warburg beginnt und das durch ein Reisestipendium die Gelegenheit bekommt zu wachsen. Der wohlhabende Unternehmersohn Warburg legt sich eine unglaubliche Bibliothek zu. Der Drang, alle Bücher besitzen zu wollen, die er zu brauchen glaubt, scheint Wahnsinn. Die Geschichte von Warburg hat nichts mit der von Charlotte zu tun und doch führt eine zur anderen. Foenkinos stößt zufällig auf Charlottes Bilder, er liest ihre Hinterlassenschaft, ihr illustriertes autobiografisches Theaterstück mit dem Titel Leben? Oder Theater? Er ist infiziert, beschließt, aus ihrem Leben einen Roman zu machen, doch scheitert an der Form:

»Nach jedem Satz geriet ich ins Stocken.
Es ging einfach nicht weiter.
Das war körperlich beklemmend.
Ich verspürte beständig das Verlangen, eine neue Zeile zu beginnen.
Um durchatmen zu können.«

Und so geschieht es. Und es ist gut.

Charlottes Geschichte hat Anziehungskraft. Ich werde zum Mitglied einer Verschwörung von Wissenden, die über Charlotte ihre schützende Hand halten wollen, jedoch ihr Scheitern ahnen. So bin ich gezwungen, mich auf eine aufwühlende Reise zu begeben. Wahnsinn ist ständiger Begleiter. Er ist der Antrieb.

Blutstropfen

Charlotte Salomon

Selbstportrait von Charlotte Salomon – gemeinfrei

Die groben Züge der Lebensgeschichte von Charlotte Salomon können bei wikipedia nachgelesen werden. Ich kann hier also, ohne viel vom Roman zu verraten, erzählen, dass es Charlotte trotz aller Unwahrscheinlichkeit gelingt, ein Kunststudium zu beginnen. Sie verliebt sich in einen Mann, der sich am Wahnsinn im Ersten Weltkrieg infiziert. Die Liebe ist ein Fieber, wie die Kunst, wie das Leben.

»Sie dürfte nichts von ihm erwarten, hat er gesagt.
Doch das ist schwer.
Es übersteigt ihre Kräfte.«

Die Eltern wollen, dass Charlotte Deutschland verlässt. Charlotte stemmt sich mit letzter Kraft dagegen. Der Mann ihres Herzens versucht sie umzustimmen:

»Keine Liebe der Welt ist es wert, den Tod in Kauf zu nehmen.
Und in Deutschland zu bleiben, bedeutet den Tod.«

Charlotte möchte lieber sterben als fliehen. Doch es kommt anders. Zunächst.

Charlotte von David Foenkinos

Unbedingte Leseempfehlung ***

“Charlotte” von David Foenkinos
ISBN 978-3-421-04708-3
DVA – Verlagsgruppe Random House.
www.dva.de

Text: (C) Karen Grol 24.10.2018
Titelfoto: (C) OTFW Berlin, wikipedia