Tosh ist nicht die Titanic

Was soll ich schon erzählen? Die meiste Zeit des Tages verbringe ich unter einer Decke auf dem Bett in der Heckkajüte. Sicherheit bietet alternativ der Hohlraum unter dem Schreibtischsessel in der Lounge. Leider hat Yoshi diesen Platz auch entdeckt und kommt mir – gemein wie er ist – meist zuvor. Also krieche ich unter die Decke, rolle mich fest ein und komme nur hervor, wenn ich Hunger habe, ein Toilettengang ansteht, die Chefin nach mir ruft oder wenn der Motor aus ist und wir den nächsten Hafen erreicht haben. Etwas stickig und heiß ist dieses Versteck schon, doch die Geräusche sind gedämpft und meine blühende Fantasie kommt zur Ruhe. Kennt ihr das, wenn vor Angst das Herz schlägt wie ein Vorschlaghammer? Alles, was ich nicht kenne, macht mir Angst: fremde Menschen, unbekannte Geräusche, eine neue Umgebung. Wenn ich nichts sehe, kann mir nichts passieren. Das weiß jedes Baby.

Als kleiner Kater, ich war erst ein paar Monate alt, erfasste mich ein Auto und schleuderte mich auf den Rasenstreifen am Straßenrand. Mein Kopf brummte, meine Hüfte schmerzte fürchterlich. Bei jedem vorbeifahrenden Auto befürchtete ich, es könne über mich hinwegdonnern. Meine Angst war so groß, dass ich nicht mehr an mich halten konnte. Ihr wisst schon. Es war mir äußerst unangenehm, dass ich meine letzte Reise so unsauber antreten sollte. Denn das war sicher: Mein letztes Stündlein hatte geschlagen. Ich begann zu frieren. Lange würde es nicht mehr dauern.

Plötzlich hielt ein Auto, eine Decke wurde über mich geworfen. Ich fauchte, wehrte mich mit letzen Kräften, trotzdem wurde ich in das Auto verfrachtet. Auf dem Schoß eines Menschen lag ich nun. Auf einem solchen hatte ich noch nie gelegen. Menschen verjagten mich für gewöhnlich. Ich war auf einem Bauernhof geboren worden. Wie meine Eltern und Geschwister waren wir dafür zuständig, die Anzahl der Mäuse so gering wie möglich zu halten. Streicheleinheiten standen nicht auf dem Programm. Futter genauso wenig. Jetzt sprach ein Mensch mit mir, streichelte mir sanft die Stirn. Ich wähnte mich im Katzenhimmel, bis wir eine Tierklinik erreichten. Eine Nacht verbrachte ich dort und wurde anschließend meinen menschlichen Rettern mit dem Vorschlag übergeben, man solle mich dorthin zurückbringen, wo man mich aufgelesen habe. Ich würde wohl inkontinent bleiben.

Das haben der Chef und die Chefin nicht getan. Seit 10 Jahren lebe ich bereits bei ihnen. Ich benutze immer die Katzentoilette, aber wenn ich Panik bekomme, kann ich für nichts garantieren. Ich hoffe, ihr versteht mich nun etwas besser.

Entschuldigt, ich bin ordentlich vom Thema abgekommen, aber was um Himmels willen soll ich vom vierten Tag auf der Tosh erzählen, wenn ich nichts sehe? … Ich habe allerdings etwas gehört! Ist das akzeptabel?

Yoshi hat erzählt, dass meine Chefin sich nach jedem Schleusengang vorne ans Bug der Tosh stellt und die Arme ausbreitet. Ihr kennt sicher den Film Titanic mit Kate Winslet. In der Dunkelheit steht Kate am Bug des Passagierdampfers, Leonardo di Caprio dahinter, er sichert sie. Dazu schlägt mein Herz “My Heart will go on”. Ich meine, das ist der Moment, in dem sie sich zum ersten Mal küssen. Also Kate und Leonardo. Der Chef kann die Chefin nicht küssen, nicht in diesem Moment, weil er das Steuer halten muss. Sagt Yoshi. Ich habe ihn das nämlich gefragt. Also keine Küsse nach dem Schleusengang. Ich fänd’ solche allerdings romantisch und angebracht. Ich küsse meine Chefin gerne und zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Die einen wie die anderen sind allerdings rar, wenn ich in der Kajüte unter der Decke liege. Yoshi findet Küsse grundsätzlich blöd. Er findet dieses ganze Titanic-Gehabe der Chefin auch “voll peinlich”, er könne gar nicht mehr hinsehen, am liebsten würde er auswandern, zur See gehen. Ach, Yoshi ist einfach ein Angeber. Im Gegensatz zu Yoshi habe ich mich immerhin schon allein an Deck getraut. Nach dem Anlegen versteht sich.

Tabbi hat erzählt, dass er kurz vor der Abfahrt in Groningen ein Gespräch von Chef und Chefin mit der Besatzung eines anderen Motorbootes belauscht hat. Auf diesem Boot steht die Frau am Steuerstand, während der Mann die Anlegemanöver an Deck managed. Talente sind unterschiedlich verteilt und bestmöglich zu nutzen, sag ich immer. Die Chefin lobt die Frau für ihre Künste am Steuer und der Chef den Mann für das flinke und professionelle Jonglieren mit Seilen und Fendern. “Eins muss ich klarstellen”, antwortet der Mann, “Diese Frau ist meine Frau”. Seitdem rätseln wir, wie der Mann das gemeint hat. Yoshi, der Angeber, behauptet, das sei ein billiges Ablenkungsmanöver, weil er das Motorboot nicht selbst steuern kann. Ich behaupte, er war schlicht stolz auf seine Frau. Tabbi meint, der Mann dürfe die Frau gerne behalten, er habe ja bereits eine Frau. Er meint meine Chefin. Die gehört ihm. Denkt er. Da ich Tabbi verehre, lass ich ihm diese krude Idee. Andererseits ist es unerheblich, ob ich ihm zustimme oder widerspreche. Tabbi hält mich auf Abstand. Yoshi hält mich auf Abstand. Zwischen die beiden passt kein Streichholz. Sie dulden mich, weil Chef und Chefin das so wollen.

Die Fahrt von Groningen bis zum kleinen, aber feinen Anleger “De 4 Elementen” in Stroobos habe ich wieder unter der Decke verbracht. Ich habe gar nichts gesehen und außer Knattern und anderen unangenehmen, Unheil-versprechenden Geräuschen nichts gehört. Schließlich stellte sich enorme Unruhe ein. Wir legten an. Anfangs hörte ich eine fremde Stimme, die im Verlauf des Manövers seltsam stumm blieb. Die Chefin rief, “Uwe, dein Heck”, der Chef rief, “Karen, nicht so ziehen”. Die Chefin schrie “das Seil”, der Chef schrie Unverständliches. Ich lugte unter der Decke hervor, um Tabbi oder Yoshi zur Situation zu befragen. In diesem Augenblick folgte ein ohrenbetäubendes Klatschen, wie wenn irgendwas im Wasser landet, und ich zog mich geschwind unter meine Decke zurück. Zur Sicherheit rollte ich mich dreimal ein.

Bilanz des Tages – 25.05.2024:

  • Zum ersten Mal geheizt: Es war sehr kalt am Morgen.
  • 2 Schleusen überwunden und etliche Brücken erfolgreich zur Öffnung bewegt.
  • Anlegemanöver mit Verbesserungspotenzial, aber der Einweiser hatte auch keine Ahnung 🙂
  • Eine google Recherche ergab, dass der Kartenplotter ein Update braucht, da er sich nach längerer Betriebszeit nicht mehr mittels Touchscreen-Schieber ausschalten lässt. Nun: Das muss warten.
  • Der Motor lässt beim Starten auch gelegentlich länger auf sich warten.

2 Kommentare

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