Verwirrspiel im Hessischen Landesmuseum Darmstadt

Am vergangenen Wochenende war ich im Hessischen Landesmuseum Darmstadt. Ein Bild von Margaret Macdonald Mackintosh hänge in der Jugendstil-Ausstellung, erfuhr ich unlängst. Einst sei das Bild dem Ehemann Charles Rennie Mackintosh zugeschrieben gewesen, hieß es. Die beiden haben oft zusammengearbeitet, Toshie tat sich zu Lebzeiten mit dem Signieren schwer, eine Verwechslung scheint mir daher nicht unwahrscheinlich. Doch mit so viel Verwirrung habe ich nicht gerechnet.

In Deutschland gibt es nur dieses eine Werk der Mackintoshs zu sehen, daher war der Besuch für mich Pflicht, eine große Freude und längst überfällig. Ich habe mich vorab im Hessischen Landesmuseum erkundigt und bekam umfangreiche Informationen über Herkunft und Hintergrund.

Das Bild hieße “The Opera of the Seas”, sei von Margaret Macdonald, ginge auf die Gessos zurück, die die Schotten für den Wärndorfer Musiksalon in Wien geschaffen haben, sei aber später entstanden, irgendwann vor 1915, denn stilistisch ähnele es “Little Hills” von 1917/1918. Es gibt entsprechende Literaturhinweise, die Provenienz ist geklärt.

Margaret Macdonald Mackintosh in der Jugendstil-Ausstellung in Darmstadt

Das gesuchte Bild befindet sich im Ausstellungsbereich “England”. Margaret würde darüber lachen. Immerhin ist das Werk zu einer Zeit entstanden, als sich die Mackintoshs tatsächlich in England aufhielten. Die Angabe ist also interpretationsfähig. So auch das Bild. Es befindet sich hinter Glas, das so stark spiegelt, dass ich nur mit Mühe etwas erkennen kann und eine Fotografie mit Amateurmitteln unmöglich ist. So sieht man auf dem Versuch mehr von der Fotografin und anderen Ausstellungsstücken als vom Bild selbst. Schade.

The Opera of the Sea, Margaret Macdonald Mackintos
Fotografie eines Bildes im Hessisches Landesmuseum Darmstadt. Ausgewiesener Titel: “The Opera of the Seas”, Margaret Macdonald Mackintosh, Mischtechnik, Öl und Tempera auf Leinwand.

“Opera of the Winds” und “Opera of the Seas”

In einer Vitrine darunter befinden sich die Abbildungen der beiden Gessos aus dem Wärndorfer Musiksalon, auf die das Werk oben sich inhaltlich bezieht: “Opera of the Winds” und “Opera of the Seas”. Tatsächlich gleicht das Darmstädter Bild dem rechten Gesso hinsichtlich Aufbau und Inhalt, doch Technik und Farbgebung unterscheiden sich gravierend.

Gessos von Margaret Macdonald
“Opera of the Winds”, 1903, Margaret Macdonald (links) und “Opera of the Seas”, 1903, Margaret Macdonald (rechts)

Die Gessos basieren auf dem Bühnenwerk “Die sieben Prinzessinnen” des belgischen Schriftstellers und Dramatikers Maurice Maeterlinck.  Es lieferte das Motto für das Design des Musiksalons. Fritz Wärndorfer, der Auftraggeber, war Kunstsammler und besaß Werke des Bildhauers George Minne, der wiederum ein Freund von Maurice Maeterlinck war. Das sind die Zusammenhänge. Vermutlicht gaben die Wärndorfers das Motto vor.

Doch das Bild, um das es hier geht, soll später entstanden sein. Viel später. Bis 1915 so die Information des Hessischen Landesmuseums. Folgt man den Spuren des Künstlerpaars, stößt man auf Unstimmigkeiten.

The Voices of the Wood

1914/1915 hielten sich die Mackintoshs im südenglischen Walberswick auf. Margaret hat in dieser Zeit vermutlich nicht gearbeitet, aber – wie ich in “Mackintoshs Atem” ausgeführt habe – kam es frühestens hier zu der Idee, Paneele zu gestalten, die auf der Arts & Crafts Ausstellung in London im Oktober 1916 gezeigt werden konnten. Sie sollten Teil einer Wanddekoration mit Kerzenhaltern mit dem Namen “The Voices of the Wood” sein.

Arts & Crafts Exhibition 1916

Es existieren zwei Kataloge zu der Ausstellung, die 1916 in der Royal Academy in London stattfand, möglicherweise zwei Versionen:

Katalogversion 1 weist Ausstellungsstück 181 – ein Paneel mit Kerzenhaltern und dem Titel “The Voices of the Wood” – Margaret Macdonald und Charles Rennie Mackintosh zu.

Katalogversion 2 weist zwei Ausstellungsstücke aus: 181 von Charles Rennie Mackintosh. 181a von Margaret Macdonald Mackintosh und Charles Rennie Mackintosh. 

Roger Billcliffe, ein Mackintosh-Experte, führt in seinem neuen Bildband “The Art of the Four” (Seite 237ff) aus, dass es sich vermutlich um ein Paar von Gemälden gehandelt hat, das in Mischtechnik – Öl und Tempera auf Leinwand – gefertigt wurde. Das komplette Werk heiße “The Voices of the Wood” und gehöre zusammen, wie auch die Wärndorfer Gessos zusammengehören. Billcliffe geht davon aus, dass die Mackintoshs aus Zeitmangel die Motive der Wärndorfer Gessos aufnahmen, sie jedoch in einen anderen, neuen Zusammenhang stellten. Das erkläre auch die abweichende Stilistik. Diese Theorie unterstütze auch eine andere Mackintoshs-Expertin: Pamela Robertson.

Von Bild 181 ist unglücklicherweise nichts bekannt. 181a ist mit hoher Wahrscheinlichkeit das Bild, das heute im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt hängt. Es ist das Werk, das als gemeinsames Werk im Arts & Crafts Katalog von 1916 ausgewiesen wird. Für Mackintoshs Mitwirkung spricht laut Billcliffe, dass die Blumen-Kaskade im Haar der Frauenfigur in Vorbereitungsstudien aus der Hand von Mackintosh auftaucht, aber auch in Textildesigns, die Mackintosh zu dieser Zeit anfertigte. Das Bild entstand nach dieser Theorie 1915/1916, während die Mackintoshs sich in London aufhielten. Dafür spricht auch der Hinweis auf der Rückseite des Bildes: 2 Cedar Studios, 45 Glebe Place, Chelsea. Hier wohnten die Mackintoshs ab 1915.

181a wurde 1924 möglichweise auf der 14. Internationalen Kunstausstellung in Venedig gezeigt. Ein Zettel auf der Rückseite des Bilds weist darauf hin. 1933 wurde es auf der Charles Rennie Mackintosh Memorial-Ausstellung in Glasgow gezeigt. Es kam dieses Mal von Charles Macdonald, Margarets Bruder. Vermutlich hatten die Mackintoshs es nach Venedig beim Schwager/Bruder in Dunglass Castle bei Glasgow untergestellt. Auf der 1933er Ausstellung wurde das Bild scheinbar lediglich Toshie zugewiesen. Auf weiteren Ausstellungen in London (1966) und Edinburgh (1968) wohl auch.

Die Charles Rennie Mackintosh Ausstellung in Darmstadt 1969

Darmstadt brachte Ordnung in die Angelegenheit. Vom 27. Februar 1969 bis zum 4. Mai 1969, quasi im Nachgang zum 100. Geburtstag des Schotten, fand in Darmstadt eine Ausstellung statt. Ich habe mir den Ausstellungskatalog besorgt. Voilà: in Toshies Lieblingsfarbe.

Charles Rennie Mackintosh Ausstellung in Darmstadt
Cover eines Ausstellungskatalog von 1969

Auf Seite 3 ist das Bild abgebildet, das heute im Landesmuseum hängt: 181a. Es hat im Ausstellungskatalog von 1969 den Titel “The Opera of the Seas”. Es wird Charles Rennie Mackintosh und Margaret Macdonald zugewiesen.

Opera of the Seas von Charles Rennie Mackintosh und Margaret Macdonald
Dritte Seite aus einem Ausstellungskatalog von 1969

Es ist schwer, nach so vielen Jahren die Schaffensumstände eines einzelnen Kunstwerks eindeutig zu erklären. Aber es ist sehr spannend, es zu versuchen.

Die Stimmen aus dem Wald

Heute heißt das Werk in Darmstadt noch immer “The Opera of the Seas”, nicht “The Voices of the Wood”. Heute wird lediglich Margaret als Künstlerin ausgewiesen. Dieser Titel und nur Margarets Name stehen gemeinsam mit der Londoner Adresse auf der Rückseite des Bildes.

Im 150. Mackintosh-Jahr gibt es leider keine Ausstellung über Toshie und Margaret in Darmstadt. Es gibt dort offiziell auch kein Bild mehr, an dem Toshie beteiligt war. Es gibt nur noch eines von Margaret. Aber auch darüber bin ich sehr froh.

Mir scheint dieses Verwirrspiel symptomatisch für Mackintosh. Er würde darüber lachen, glaube ich. “So war es doch immer”, würde er sagen. Viele Jahre durfte er sich nicht einmal Architekt der Glasgow School of Art nennen. Margaret die Urheberschaft an einem Gemeinschaftswerk abzutreten, wäre ihm leicht gefallen. Margaret sei das Genie, erklärte er. Er selbst habe nur Talent. 

Abschließend: Die Jugendstil-Ausstellung im Hessischen Landesmuseum Darmstadt ist eine Empfehlung. Schaut sie euch an. Nirgendswo habe ich Landesausprägungen der Art Noveau so wunderbar vergleichen können. Nirgendswo habe ich mehr Bekannte aus Mackintoshs Atem getroffen.

(C) Karen Grol – 15.11.2018