Das Mackintosh Haus in Köln

Am 2. Februar 1953 erreichte Thomas Howarth (1914-2000) ein Brief aus Edinburgh. Howarth war Architekt, Architekturhistoriker und hat ein Jahr zuvor die erste Biografie über Charles Rennie Mackintosh geschrieben. Um so mehr versetzte ihn die Nachricht in Aufregung. Es wäre nichts weniger als eine Sensation, würde sich tatsächlich ein Mackintosh Haus in Köln befinden.

Der Brief

Den schrieb der schottische Künstler Stanley Cursiter (1887–1976), der von 1930 bis 1948 den Direktorposten an der National Gallery of Scotland inne hatte. Vermutlich war es Howarths Biografie über Mackintosh, »Charles Rennie Mackintosh and the Modern Movement«, die den damaligen Offizier nach 35 Jahren an ein Haus in Köln erinnerte, in dem er sich 1918 während des Ersten Weltkriegs aufgehalten hatte.


Das Haus in Köln

Cursiter berichtete, das Haus habe sich am Ende des Hohenzollern Rings befunden, circa 600 bis 800 Meter vom Rhein entfernt. Gegenüber sei ein großer öffentlicher Park gewesen. Bäume haben das Haus umgeben. Von der Straße habe er das Grundstück kaum einsehen können.

Vermutlich seien die Architekten aus München gewesen, daran erinnere er sich, schrieb Cursiter, dass der Bauherr von München nach Köln gekommen sei. Er habe ein Münchner Architekturbüro beauftragt und in irgendeiner Weise sei Mackintosh involviert gewesen. Wenn der Schotte das Haus nicht entworfen habe, so habe er zumindest Einfluss auf die Innenausstattung ausgeübt.

Cursiter durfte das Haus besichtigen. Die deutsche Familie, die auch während der Besatzung darin lebte, führte ihn herum. Cursiters Erinnerungen sind vage, aber sie dürften Howarths Fantasie beflügelt haben.


Die Zimmer

Das Esszimmer habe feste Einbauten aus Eiche, versehen mit schmiedeeisernen Scharnieren und Griffen, verziert mit schottischen Disteln. Das Sideboard fiele wegen seiner getriebenen silbernen Dekorationen ins Auge. Cursiter sprach von den Initialen M.M.M, die er natürlich sofort als die Signatur von Mackintoshs Ehefrau Margaret Macdonald Mackintosh erkannt habe.

Der Salon sei Mackintosh pur und aus weißem Ebenholz, mit leicht ägyptischem Charakter. Daran schließe sich ein weiterer kleinerer Salon an, ebenfalls weiß und aus Ebenholz.


Howarths Spurensuche in Köln

Thomas Howarth muss sich sogleich auf die Suche begeben haben. Eine Skizze über den genauen Standort, die Cursiter beigelegt hat, wird hilfreich gewesen sein, denn er wurde fündig.

Villa Bestgen Köln

Das Haus entpuppte sich als die Villa Bestgen in Köln, Theodor Heuss Ring 9, früher Deutscher Ring 31, entworfen im Wiener Jugendstil von Alois Ludwig aus München und Gerhard Wehling aus Düsseldorf. Der Bauherr sei der Bankier Carl Deichmann gewesen. Ludwig habe unter Otto Wagner in Wien studiert. Damit erschöpfen sich die Informationen auf www.mackintosh-architecture. Mir ist sofort klar: Dieses Haus hat Mackintosh nicht entworfen. Ein Mackintosh Haus in Köln gibt es leider nicht. Doch die Möglichkeit, dass sich Interieur von Mackintosh und seiner Frau in dem Haus befunden hat, besteht noch immer.


Was weiß das Internet über die Villa Bestgen?

Der wikipedia-Eintrag weiß nichts von einem Carl Deichmann. Das Haus heißt ja auch nicht Villa Deichmann, überlege ich. Ungereimtheiten wecken stets meine Neugierde. Das Haus steht inzwischen unter Denkmalschutz. wikipedia führt mich zu www.koelnarchitektur.de.  Hier werden erste Zusammenhänge klar. Josef Bestgen war Direktor im Bankhaus Deichmann, sein Chef der Bauherr. Eine ungewöhnliche Konstellation. »Das Gebäude galt seinerzeit als das modernste der Stadt. In der Ausbildung des Wiener Jugendstils blieb es einzigartig«, ist zu lesen. Es wurde nach dem 2. Weltkrieg wiederaufgebaut. Die Formulierung lässt auf eine schwere  Zerstörung schließen. Es gehört heute dem Gerling Konzern und ist vermietet.


Anfrage beim Amt für Denkmalschutz in Köln

Eine Mail aus Köln erreicht mich im November 2016. Der Stadtkonservator schreibt: »Die teilweise erhaltenen Planreproduktionen geben keine Auskunft zu den Ausstattungskünstlern, von denen der Name eines Bildhauers überliefert ist. Die historischen Fotos erwecken den Eindruck, als ob nicht nur ein Wiener Bildhauer sondern auch noch andere Wiener Werkstätten beteiligt gewesen wären. Diese und Mackintosh scheinen auf jeden Fall nicht ohne Einfluss gewesen zu sein. Einen Beleg für seine Beteiligung habe ich jedoch nicht gefunden. Im Inneren ist Wandgestaltung erhalten, leider nur auf der Grundlage der publizierten Fotos vom Neubau 1904 dokumentiert.«

Fotos? In der Anlage der Mail befinden sich sechs S/W-Fotos. Ich kann nichts erkennen, das ich mich signifikant an Mackintosh erinnert, aber Qualität und Größe der Fotos geben nur wenige Details preis. Um sicherzugehen, will ich herausfinden, wo die Bilder publiziert worden sind. Das Denkmalschutzamt gibt mir den Tipp, in »Waetzoldts Bibliographie zur Architektur des 19. Jahrhunderts« nachzuschlagen. Es folgt eine Odyssee durch Stuttgarts Bibliotheken, doch schließlich bekomme ich nicht nur das Nachschlagewerk, sondern auch die Zeitschrift, in der die Bilder einst veröffentlich wurden, zu fassen.


Moderne Bauformen 1904

Ich studiere die Bilder und lese den Artikel, der am Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen ist.


So aufregend solch eine Spurensuche auch ist, so ernüchternd kann das Ergebnis sein. Auf den Namen Charles Rennie Mackintosh stoße ich im Artikel nicht. Die Bilder weisen eine bessere Qualität auf, doch weder finde ich das Sideboard mit Silberapplikation und Margarets Initialen, noch ein Ebenholzzimmer. Überhaupt: Mackintoshs weiße Möbel waren lackiert, mit unzähligen weißen Lackschichten versehen, so lange, bis die Oberflächen glatt und eben waren. Das einzige, das mich an vage Mackintosh erinnert, ist die Deckenleuchte im Treppenhaus.

Trotzdem: Kann sich Stanley Cursiter so geirrt haben? Hat er sich Margarets Initialien nur eingebildet? Seine Erinnerungen sind von 1918, die Aufnahmen von 1904. Dazwischen liegen 14 Jahre, Zeit genug, sich ein zweites Mal einzurichten.


Ein Esszimmer in München

1898 hat Mackintosh für den Verleger Hugo Bruckmann und seine Frau Elsa Möbel für ein Haus in München entworfen. Was ist aus ihnen geworden und kann ich Ähnlichkeiten feststellen? Vielleicht hat Bruckmann den Schrank inzwischen verkauft?

Mackintosh Esszimmer - Hugo Bruckmann München

Mackintosh Esszimmer – Hugo Bruckmann München – (C) Dekorative Kunst, 2, 1898, p. 78

Es handelte sich um einen freistehenden Kabinettschrank, der links neben den Glastüren steht. Die Metallapplikationen sind deutlich zu erkennen. Cursiter berichtete jedoch von einem Sideboard.

Nein, München bringt mich nicht weiter.


Die Dresdener Werkstätten

Ich trete mit den Dresdener Werkstätten in Kontakt. Unternehmensgründer Karl Schmidt hat Mackintosh 1904 beauftragt, ein Schlafzimmer zu entwerfen, das er in Dresden produzieren will. Wieviele dieser Schlafzimmer hat Schmidt in Deutschland verkauft? Und ging eines davon nach Köln? Die Antwort aus Dresden ist ernüchtern. Darüber wisse man nichts. Ich erhalte jedoch die Erlaubnis, im Archiv der Werkstätten in Dresden zu forschen, und den Kontakt zu einer Kunsthistorikerin, die dies bereits getan hat. Das Ergebnis: Keine Korrespondenz mit Mackintosh. Kein Beleg über Verkäufe oder Abrechnungen. Auch Dresden ist eine Sackgasse. Überhaupt, von einem Schlafzimmer hat Cursiter nichts erzählt.

Dresdener Werkstätten Karl Schmidt Hellerau Mackintosh Schlafzimmer

Dresdener Werkstätten Karl Schmidt Hellerau – Mackintosh Schlafzimmer – (C) Innendekoration, 15, 1904, p. 163


Das Wärndorfer Musikzimmer in Wien

Die letzte Idee, die ich habe, betrifft das Wiener Musikzimmer von 1902. Der Mäzen, Kunstsammler und Wiener Werkstätten Mitbegründer Fritz Wärndorfer hat es Anfang des 20. Jahrhunderts bei Mackintosh in Auftrag geben.

Fritz Wärndorfer - Mackintosh Musikzimmer

Fritz Wärndorfer – Mackintosh Musikzimmer – (C) Studio, 57, 1912, p. 72

Wärndorfer musste vor dem 1. Weltkrieg Insolvenz anmelden und emigrierte 1914 in die USA. Seine Kunstsammlung und seine Möbel wurden versteigert. Die Spuren verlieren sich. Es ist möglich, dass Teile dieses Zimmers nach 1914 in der Kölner Villa Bestgen gelandet sind. Beweise gibt es dafür keine.


Ein neuer Ansatz

Ich will aufgeben. Doch mir fehlt ein letztes Puzzlestück. Wer ist überhaupt dieser Bestgen, der in dem Haus gelebt hat? Hatte er Kinder? Lebt noch jemand aus dieser Familie?

Josef Bestgen arbeitete von 1901 bis 1912 als Bankier beim Schaaffhausen’scher Bankverein in Köln. Dieses Unternehmen verschmolz 1928 mit der Deutschen Bank. Es gibt eine Historische Gesellschaft, die sich um die Geschichte der Deutschen Bank kümmert. Ich schreibe eine Mail.


Der 80. Geburtstag von Josef Bestgen

Am 28. Juli 1928 gratulierte der Schaaffhausen’scher Bankverein Josef Bestgen zum Geburtstag. Neben einer Reihe von Standardschreiben und Unterlagen zu Pensionszahlungen sei dies die einzige Information, die man mir zur Verfügung stellen könne. Stimmt nicht: Dem beiliegenden Antwortschreiben von Josef Bestgen entnehme ich, dass er 1928 in Wiesbaden lebte.

Ich stöbere in Online-Geburtsregistern, Telefonbüchern, Sterberegistern, Familienstammbüchern und Suchmaschinen. Friedrich Maria Joseph Bestgen wird am oder um den 28.07.1848 geboren. Er tritt 1872 in den Schaaffhausen’scher Bankverein ein. Er heiratet Elisabeth Maria Carolina Euler. 1878 wird sein Sohn Fritz in Köln geboren. Am 18.11.1879 stirbt die Tochter bei der Geburt. Die Familie wohnt in der Altenberger Str. 26. 1897 wird Bestgen in den Vorstand vom Schaaffhausen’scher Bankverein berufen. 1891 ist er Prokurist und wohnt in der Werthstr. 59. 1901 ist er Direktor. 1902 promoviert sein Sohn Fritz in Leipzig. Der Sohn ist Jurist. Seine Arbeit hat den Titel »Rechtsstellung einer Frau, die selbstständig ein Erwerbsgeschäft betreibt«.

1905 ziehen Josef und Elisabeth Bestgen in das Haus am Deutschen Ring 31. 1907 ist Dr. jur. Fritz Bestgen Geschäftsführer der Gesellschaft für Gewinnung von Gerbstoffen mit beschränkter Haftung. 1914 beginnt der 1. Weltkrieg. 1918 finde ich keinen Josef Bestgen mehr im Kölner Telefonbuch. 

Wer hat Stanley Cursiter 1918 durch die Villa Bestgen geführt?

1920 wird Dr. jur. Fritz Bestgen Schweizer Bürger. Ab 1926 gehen alle Rentenzahlungen für Josef Bestgen an eine Adresse in Wiesbaden. Um 1930 stirbt Josef Bestgen. Den Lebensweg seines Sohnes Fritz Bestgen verfolge ich noch weiter. Nie hat er etwas mit Architektur zu tun, nie mit Möbeln oder Kunst. Immer geht es um Geld. Viel Geld, geheime Reichssachen, Schweizerische Geschäfte mit dem Dritten Reich. Ich fasse einen Entschluss. Ich gebe auf.

Text: (C) Karen Grol 07.09.2018
Titelfoto: (C) Stuart Robertson, CRM Society – (Der Eintrag MMM ist ein Fake)