René Lalique trifft Charles Rennie Mackintosh

Die Natur lehrt den Menschen das Sehen. Gemeinsam mit dem Großvater pflegt der junge René Lalique (1860-1945) den Wintergarten der Familie in Ay im französischen Département Marne. Er unternimmt Streifzüge durch die Landschaft der Champagne und entwickelt ein ausgeprägtes Interesse an seiner Umgebung. Pflanzen, Blüten, Insekten, René entdeckt täglich Neues. Die Farben faszinieren ihn. Die vielfältigen Formen und Strukturen kann sich kein Mensch ausdenken. Er kniet nieder, hockt und zeichnet. Kein Spaziergang ohne Skizzenbuch. Früh lernt der junge Franzose das Sehen. Früh versteht er, welchen Reichtum die Natur bietet. Früh beginnt er, Gesehenes aufs Papier zu bringen. Der Künstler wird im Garten geboren. So passiert es sechs Jahre später auch im fernen Glasgow. Ein Vater liebt seine Hyazinthen und nennt sein Stück Erde den Garten Ende. Der Sohn entwickelt kein besonderes Interesse am Jäten und Umgraben. Charles Rennie Mackintosh (1868-1928) hockt lieber im Gras und zeichnet.

Wie alles anfängt

René erhält mit 12 Jahren den ersten Zeichenunterricht. Mit 16 beginnt er eine Lehre bei Louis Aucoc, einem Pariser Juwelier, und absolviert eine Ausbildung an der École des Arts Décoratifs in Paris. Der Stapel seiner mit schwarzem Stoff  bezogenen Skizzenbücher steigt ständig. Unermüdlich hält René fest, was ihn bewegt: Figuren voller Leben, Pflanzen, Arabesken, poetische Zitate, technische Überlegungen.

Er will Schmuckzeichner werden, teilt er mit. Die Warnung erfahrener Juweliere ist unmissverständlich:

»Das führt zu nichts. Du wirst schon sehen. In zwei oder drei Monaten wirst du nicht mehr wissen, was du noch erfinden kannst. Am Ende deiner Kraft angekommen, wirst du gezwungen sein, aufzuhören.«

Die Ausbildung

René lässt sich nicht beirren. Mit 18 geht er nach London, um zwei Jahre auf der Crystal Palace School of Art, Science and Literatur in Sydenham Grafik zu studieren. Der Crystal Palace wurde eigens für die Weltausstellung 1851 aus Glasteilen und Gusseisen – ursprünglich im Hyde Park – gebaut. Beginnt an dieser Schule Renés Faszination für Glas?

René Lalique, der Schmuckdesigner

Danach kehrt er nach Frankreich zurück und lässt sich als selbstständiger  Schmuckdesigner nieder. Er arbeitet für seinen Lehrherren Aucoc, aber auch für renommierte Firmen wie Jacta, Boucheron, Cartier, Gariod.

René Lalique
René Lalique – Zeichnung – Foto: (C) Uwe Langner

1885 übernimmt Lalique die Werkstatt des Juweliers Jules Destapes. Jetzt entwirft er die Schmuckstücke nicht nur. Er stellt sie auch her und geht erneut eigene Weg. Kostbaren Materialien wie Gold, Perlen und Edelsteinen misst er wenig Bedeutung bei. René Lalique setzt auf Email, Elfenbein, Horn, Halbedelsteine und besonders Glas.

»Die Suche nach dem Schönen ist wichtiger als eine Zurschaustellung von Luxus.«


Die Wurzeln der Kunst

All dies erfahre ich, als ich am vergangenen Sonntag durch das Musée Lalique im elsässischen Wingen-sur-Moder streife und meine Nase an den Vitrinen platt drücke. Es ist schon ein wenig verrückt! Ich entdecke einen neuen Künstler für mich und versuche ihn zu begreifen, indem ich nach Parallelen und Unterschieden forsche, indem ich ihn mit dem Künstler vergleiche, den ich besser als jeden anderen kenne: Charles Rennie Mackintosh.

Ich entdecke gemeinsame künstlerische Wurzeln in der Natur. Ich entdecke die Leidenschaft fürs Zeichnen, die beiden gemein ist. Ich entdecke ein unbedingtes Wollen, eine eigene Auffassung, die mit einer starken Abgrenzung zum künstlerischen Werk der Zeitgenossen einhergeht.

René Lalique

René Lalique – Zeichnung – Foto: (C) Uwe Langner

Lalique und Mackintosh sind unermüdliche Beobacher, die weder kopieren noch nachahmen wollen. Beide sind unglaublich vielseitig und lassen Grenzen verschwimmen. Mackintosh liebt die Stilisierung, schafft Ornamente, Formen und Figuren durch Abstraktion und Reduktion. Lalique macht das Gegenteil. Er verwandelt, was ihm gefällt. Mackintosh liebt das architektonische Erbe seiner Heimat Schottland, ihn beeinflusst Kunst und Handwerk Japans. Lalique experimentiert mit Werkstoffen, mit Glas und mit Email. Beide bedienen sich am Formenreichtum der Natur und setzen mit ihrer Kunst (auch) dem weiblichen Körper ein Denkmal.


Internationale Anerkennung

René Lalique

Ende des 19. Jahrhunderts gilt René Lalique als einer der besten Schmuck-Designer. 1897 werden seine Arbeiten als »erstaunliche Neuerungen« und als die »Vorstufe des definitiv modernen Schmucks« gefeiert. Auf der Weltausstellung 1900 in Paris genießt er bereits internationalen Ruf. Doch seine Schmuckkreationen finden erste Nachahmer. Lalique ist 40 Jahre. Er hat es wohl kommen sehen und sich schon vor einiger Zeit eine Glaswerkstatt eingerichtet. Er hat mit Email experimentiert und Patente zur Herstellung von Emailschmuck eingereicht. Schritt für Schritt vollzieht er die Wandlung vom Schmuckkünstler zum Glasmeister.


Charles Rennie Mackintosh trifft René Lalique in Turin

Anfang 1902 findet die 1. Internationale Ausstellung für Moderne Dekorative Kunst in Turin statt. Lalique ist einer der Aussteller. Sein Schaffen befindet sich im Umbruch. In Kunst und Handwerk lese ich, dass er nichts Neues zu zeigen habe. Alles habe man bereits in Paris gesehen. Das mag sein. Aber Mackintosh und seine Frau Margaret sehen Laliques Schmuck in Turin zum ersten Mal mit eigenen Augen. Abbildungen in Zeitungen können diese Schönheit nicht wiedergeben. Mackintosh ist 34 Jahre und betreut als künstlerischer Leiter die schottischen Ausstellungsräume. Der Höhepunkt seiner Karriere steht noch bevor. Er hat 1900 auf der Wiener Secession ausgestellt. Internationale Zeitungen berichten bereits über ihn. Noch besteht Hoffnung auf eine große Zukunft.

Gemeinsam flanieren gemeinsam durch die Hallen. Margaret hat Toshie nur mit Mühe von seinen Ausstellungsräumen weglocken können. Aber es gibt so viel zu entdecken. Jetzt erstarrt sie vor einer Vitrine. Sie ist fasziniert und auch Toshie lässt sich von ihrer Begeisterung anstecken. Sie schaut suchend hoch. Der Mann trägt einen buschigen Moustace. Wie Toshie. René Lalique steht auf einem Schild. Das wird sein Name sein. Der Mann ist nicht besonders groß, seine Haare kurz, dunkel und lockig. Wie Toshie. Margaret erwidert den freundlichen Gruß. Gut, dass sie Französisch spricht. Der Franzose antwortet seinerseits auf Englisch. Drei Menschen lächeln einander an, erkennen den Künstler in dem anderen, schütteln Hände. Lalique lässt es sich nicht entgehen, der schottischen Lady mit der unglaublichen mahagony-farbenen Haarpracht die Brosche probieren zu lassen, die ihr so gefällt. Er hält ihr den Spiegel hin. Sie sei zweifellos eine Künstlerin. Schottland, natürlich! Und ja, die schottischen Räume habe er bereits ausgiebig bewundert. Er sei im übrigen auch innenarchitektonisch tätig, berichtet Lalique an Toshie gewandt. Für sein Pariser Stadthaus habe er Glasrelieftüren gefertigt. Dafür habe er Gussglasplatten mit flachen Reliefs zusammengefügt. Seine Glaskunst sei inzwischen so gereift, dass er endlich auch größere Projekt in Angriff nehmen kann. Wenn Interesse bestehe, erzähle er gerne mehr. Toshie nickt zustimmend. Margaret bestätigt das gemeinsame Interesse mit warmen Worten. Sie verabreden sich auf ein Glas Wein zu späterer Stunde im Restaurante Del Cambio. Au revoir, ruft sie. À plus tard.

So kann es gewesen sein. Oder?  Fortsetzung kann folgen.

Text: (C) Karen Grol – 29.08.2018