Der Vogel, der niemals flog

Die Natur und ihre Elemente beeinflussten die Kunst von Charles Rennie Mackintosh. Er malte beeindruckende und wunderschöne Pflanzenbilder. Die von ihm geschaffenen Wandbilder und Buntglasfenster kamen selten ohne Rose aus. Überhaupt die Rose: Sie wird heute als Markenzeichen des Glasgow Style gesehen. Mackintosh entwarf Möbel und metallene Objekte und schmückte sie mit verblüffenden Ornamenten, die selten anderes sind als stilisierte organische Formen. Bei genauem Betrachten erkennt man Blätter, Zweige und ganze Bäume. Aber haben Sie schon einmal einen Fisch, eine Glocke oder gar einen Vogel in einem von Mackintoshs Werken entdeckt?

Der Vogel bei Charles Rennie Mackintosh

Charles Rennie Mackintosh

Vielleicht kennen Sie dieses Objekt? Das Finial steht auf dem Dach der Glasgow School of Art und hat das Feuer vom Juni 2018 fraglos überlebt. Es ist aus Schmiedeeisen. Der Vogel, die Glocke und der Baum sind deutlich zu erkennen.


Ein weiteres schmiedeeisernes Objekt befindet sich im Treppenhaus der Glasgow School of Art. Der Baum breitet seine schützenden Zweige aus. Darunter schwimmt der Fisch mit einem Ring im Maul, darunter hängt die Glocke. Obenauf der Vogel, singend, jubilierend.

Charles Rennie Mackintosh

Vogel, Glocke und Baum zieren auch die Willow Tea Rooms in Sauchiehall Street, früher wie heute.


Das Wahrzeichen der Stadt Glasgow

Die vier Symbole erklären sich aus dem Wahrzeichen der Stadt Glasgow. Die Abbildung links zeigt die aktuelle Version, aber bereits im 19. Jahrhundert enthielt es Vogel, Baum, Glocke und Fisch.

Here is the bird that never flew.
Here is the tree that never grew.
Here is the bell that never rang.
Here is the fish that never swam.


St. Mungo und seine Wunder

Das Wahrzeichen erzählt von den Wundern, die dem Schutzpatron und ersten Bischof Glasgows zugeschrieben werden. Es ist der heilige Mungo (518-612). Die Cathedral St. Mungo unterhalb der Necropolis, dem Friedhofshügel, trägt seinen Namen. In diesem Umfeld ging der junge Charlie auf seine ersten künstlerischen Streifzüge.

Der Vogel ist in der Überlieferung ein zahmes Rotkehlchen, das mutwillig getötet wird. Mungo nimmt es in seine Hände, spricht ein Gebet und neues Leben erfasst den Vogel.

Der Baum ist heute eine Eiche, aber in der Legende ist er ein Haselnussbaum. Mungo hat die Aufgabe, das Feuer im Refektorium am Leben zu halten, aber er schläft ein. Jemand löscht absichtlich das Feuer. Als Mungo erwacht, nimmt er einen Haselnusszweig und spricht ein Gebet. Eine Flamme entzündet sich und Mungo kann neues Feuer entfachen.

Die Geschichte der Glocke ist unklar. Es wird angenommen, dass Mungo sie aus Rom mitgebracht hat. Ein Geschenk vom Papst, das hat den Stellenwert eines Wunders. Kein Wunder also, dass die Glocke Gewicht hat.

Und der Fisch mit dem Ring im Maul? Das geht so: Der König schenkt seiner Frau einen Ring und die Königin übergibt ihn an ihren Geliebten. Der König, der einen Verdacht hegt, stiehlt dem Geliebten den Ring und wirft ihn in den River Clyde. Er fordert die Königin auf, ihm den Ring zurückzugeben, und droht ihr mit dem Tod, sollte sie sich weigern. Die Königin und der Geliebte wenden sich verzweifelt an Mungo, der seine Mönche beauftragt, im Clyde zu fischen. Den ersten Lachs, den sie fangen, sollen sie ihm bringen. Mungo nimmt den Ring aus dem Fischmaul und rettet die Königin.


Glocke, Fisch und Baum

Es muss eine Liebeserklärung an die Heimat Glasgow sein, dass Mackintosh die vier Wunder stets in neuer Form interpretiert. Auf Glocke und Fisch verzichtet er gelegentlich. Er scheint ihnen weniger Relevanz beizumessen. Der Baum – oder das Blatt in reduzierter Form – avanciert vom Sinnbild der Stadt zu einem persönlichen Erkennungszeichen. Er ist ständige Inspiration. Der Baum als Repräsentant der Natur beflügelt Mackintoshs Kunst. Unzählige Beispiel lassen sich bereits in seinen frühen Aqurellen finden, in hölzernen Ornamenten an Möbeln, steinernen an Gebäuden und getriebenen in metallischen Objekten. Ich muss dem Baum gelegentlich einen eigenen Beitrag widmen.

Heute interessiert mich der Vogel. Welche Rolle spielt er? Ist er nur ein weiteres Element der Natur?


Griffin

Charles Rennie Mackintosh Griffin

1889 nimmt Mackintosh unter dem Pseudonym Griffin an der Ausschreibung des Alexander Thomson Trust teil. Gefordert ist der Entwurf einer Stadthalle im Neoklassizismus, ein Stil, dem Mackintosh wenig abgewinnen kann. Er möchte neue Wege gehen, will die architektonische Tradition Schottland in die Zukunft führen. Doch mit so etwas wird er die Jury nicht überzeugen, das weiß er. Der Name Griffin verkörpert die Vergangenheit, doch auch Kraft und ein unbedingter Wille. Der Greif ist ein mythisches Mischwesen. Eine beliebte Skulptur für klassizistische Gebäude. Der Greif ist stark, wachsam und klug. Ein perfektes Synonym und ein Vogel. Mackintosh gewinnt das Reisestipendium für Italien mit einer neoklassizistischen Stadthalle. Er bringt Griffin später erneut zum Einsatz, aber niemals mehr mit diesem durchschlagenden Erfolg.


»The Three Whishbones«

1897 wird in Glasgow entschieden, welcher der 11 Architekturbüros den Zuschlag für den Bau der neuen Glasgow School of Art bekommt. Alle Beiträge mussten anonym eingereicht werden. Die Wahl fällt auf das Design mit dem Symbol The Three Wishbones.

The Three Wishbones Charles Rennie Mackintosh

»Zwei schwarze Balken hinter drei stilisierten, ineinander verschlungenen Gabelbeinen. Denen von Vögeln ähnlich. Je zwei Schlüsselbeine zu einem V-förmigen Gabelbein verwachsen. Jenes V folgte dem Prinzip einer Spannfeder und spreizte die Schultergelenke des Vogels. Die Flügel breiteten sich aus. Aufwärtsbewegung der Flügel: Der Vogel hebt sich. Krümmung der Flügel: Der Vogel bewegt sich vorwärts.«

Aus Mackintoshs Atem, Karen Grol, Seite 167


Es ist, wie wir wissen, der Entwurf von Charles Rennie Mackintosh, der gebaut wird. Sein Name steht auf keiner Zeichnung und in keinem Zeitungsartikel. Er wird nicht genannt. Es ist das Architekturbüro Honeyman and Keppie, das die Lorbeeren erntet. In dem Symbol The Three Wishbones lässt sich einiges lesen.


Queens Cross Church

1899 stellt Mackintosh die Queens Cross Church in Glasgow fertig. Über der Tür ein steinernes Ornament. Wenn man will, kann man es als Vogel interpretieren.

Foto, Detail Queens Cross Church: (C) Uwe Langner


»Der Vogel« und »Das Haus eines Kunst-Liebhabers«

1901 reichen Charles Rennie Mackintosh und seine Frau Margaret unter dem Pseudonym The Bird / Der Vogel einen Entwurf für eine Ausschreibung des Alexander Koch Verlags in Darmstadt ein. Gesucht ist ein Haus für einen Kunstliebhaber. The House of an Art Lover. Mackintosh hat sich vom Greif verabschiedet. Er geht eigene Wege. »Der Vogel fällt durch eine persönliche Färbung, durch eine neugeartete strenge Formgebung und einen Zusammenklang der inneren und äußeren Gestaltung auf.« So schreibt Joseph Maria Olbrich in einem Brief an Josef Hoffmann. Das Design der Mackintoshs gewinnt trotzdem nicht, leider fehlen Ansichten, die Wettbewerbsbedingungen sind nicht erfüllt. Und doch ist die Jury so angetan, dass sie Publikationsrechte für die Zeichnungen erwirbt. Erst nach Mackintoshs Tod in den 1990er Jahren wird das Haus in Glasgow gebaut.


Nach dem Höhenflug

Der Vogel bleibt flügellahm. Das Abheben will nicht recht gelingen. Selbst die Häuser auf den Hügeln, Windyhill und Hill House, bringen nicht die gewünschte Flughöhe. Nach dem Auftrieb folgt der Sturz. Bald muss der Vogel die Flucht antreten. Die Mackintoshs werden zu Zugvögeln. Sie erholen sich in Walberswick, einem Künstlerort im Südosten Englands. Der erste Weltkrieg beginnt, doch Mackintosh lässt sich nicht stören. Er malt wieder Pflanzenbilder. Über 40 Zeichnungen entstehen zwischen 1914 und 1915. Wenn man genau hinschaut, kann man ihn sehen, den Vogel. In einigen Zeichnungen sofort, als Einzelgänger oder mit Artgenossen, oft scheinbar abwesend. Doch irgendwo versteckt er sich stets.

Gilardia (Gaillardia, Kokardenblume) – (C) Charles Rennie Mackintosh, Glasgow School of Art

Text: (C) Karen Grol – 25.08.2018
Foto Rotkehlchen: (C) pixabay